Die Kirche bedarf nach den Worten des päpstlichen Hauspredigers, Kardinal Raniero Cantalamessa OFM Cap, immer wieder der Erneuerung – auch angesichts der Entwicklungen und Veränderungen unserer Gesellschaft. Im Ringen um den Weg der Kirche ruft Cantalamessa zu Gewissensprüfung, gegenseitigem Wohlwollen und vor allem zum Hören auf den Heiligen Geist auf:
Die Geschichte der Kirche im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert hat uns eine bittere Lektion gelehrt, die wir nicht vergessen sollten, damit wir den Fehler, der sie verursacht hat, nicht wiederholen. Ich spreche von dem Versäumnis – ja sogar von der Verweigerung – die Veränderungen in der Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen, die in der Gesellschaft stattgefunden hatten, und von der Krise der Moderne, die die Folge war.
Jeder, der sich auch nur oberflächlich mit dieser Zeit befasst hat, erkennt den Schaden, den sie auf der einen wie der anderen Seite angerichtet hat, d.h. sowohl für die Kirche als auch für die sogenannten „Modernisten“. Der fehlende Dialog hat einerseits einige der bekanntesten Modernisten zu immer extremeren und schließlich eindeutig häretischen Positionen getrieben; anderseits hat er der Kirche enorme Energie entzogen und in ihr endlose Risse und Leiden verursachte, die sie dazu brachten, sich mehr und mehr in sich selbst zurückzuziehen und den Anschluss an die Zeit zu verlieren.
Das Zweite Vatikanische Konzil war eine prophetische Initiative, um die verlorene Zeit gutzumachen. Es hat eine Erneuerung herbeigeführt, die hier sicherlich nicht mehr dargestellt werden soll. Mehr als an seinem Inhalt interessiert uns in diesem Moment die Methode, die es eingeführt hat, nämlich mit der Menschheit durch die Geschichte zu gehen und zu versuchen, die Zeichen der Zeit zu erkennen.
Die Geschichte und das Leben der Kirche haben nicht mit dem Zweiten Vatikanum aufgehört. Wehe, wenn man daraus etwas macht, was manche mit dem Konzil von Trient gemacht haben, nämlich einen Schlussstrich und ein unverrückbares Ziel. Wenn das Leben der Kirche zum Stillstand käme, wäre es wie bei einem Fluss, der auf eine Sperre trifft: er verwandelt sich unweigerlich in einen Morast oder einen Sumpf.
“Denkt nicht”, schrieb Origenes im dritten Jahrhundert, “dass es genügt, nur einmal erneuert zu werden; wir müssen diese Neuheit immer wieder erneuern“ – Ipsa novitas innovanda est (1). Vor ihm hatte der neue Kirchenlehrer Irenäus geschrieben: „Die offenbarte Wahrheit ist „wie ein kostbares Getränk in einem wertvollen Gefäß. Durch das Wirken des Heiligen Geistes verjüngt sie sich immer wieder und verjüngt auch das Gefäß, das sie enthält.“ (2) Das „Gefäß”, das die offenbarte Wahrheit enthält, ist die lebendige Tradition der Kirche. Das „kostbare Getränk“ ist in erster Linie die Heilige Schrift, aber die in der Kirche gelesene Schrift, was die korrekteste Definition der Tradition ist. Der Geist ist seinem Wesen nach Neuheit. Der Apostel ermahnt die Getauften, Gott „in der neuen Wirklichkeit des Geistes dienen, nicht mehr in der alten Wirklichkeit des Buchstabens“ (Röm 7,6).
Die Gesellschaft ist mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht nur nicht stehen geblieben, sondern hat eine schwindelerregende Beschleunigung erfahren. Veränderungen, die früher ein oder zwei Jahrhunderte brauchten, dauern heute ein Jahrzehnt. Diese Notwendigkeit einer beständigen Erneuerung ist nichts anderes als die Notwendigkeit einer ständigen Bekehrung, die sich vom einzelnen Gläubigen auf die ganze Kirche in ihrer menschlichen und geschichtlichen Komponente erstreckt. Ecclesia semper reformanda. Das eigentliche Problem liegt also nicht in der Neuheit, sondern in der Art und Weise, wie wir damit umgehen. Lassen Sie mich das erklären. Jede Neuheit und jede Veränderung ist ein Scheideweg; man kann zwei gegensätzliche Wege einschlagen: entweder den Weg der Welt oder den Weg Gottes; entweder den Weg des Todes oder den Weg des Lebens. Die Didache, die geschrieben wurde als zumindest noch einer der zwölf Apostel noch am Leben war, hat diese beiden Wege bereits aufgezeigt.
Jetzt haben wir ein unfehlbares Mittel, um immer den Weg des Lebens und des Lichtes zu gehen: den Heiligen Geist. Es ist die Gewissheit, die Jesus den Aposteln gab, bevor er sie verließ: „Und ich werde den Vater bitten und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll“ (Joh 14:16). Und weiter: „Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in der ganzen Wahrheit leiten“ (Joh 16,13). Er wird das nicht alles auf einmal oder ein für alle Mal tun, sondern so, wie es sich in den Situationen ergibt. Bevor er sie endgültig verlässt, versichert der Auferstandene seinen Jüngern im Augenblick der Himmelfahrt den Beistand des Parakleten: „Ihr werdet“, so sagt er, „die Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde“ (Apg, 1:8).
Das Ziel der fünf Fastenpredigten, die wir heute beginnen, ist sehr einfach: uns zu ermutigen, den Heiligen Geist in den Mittelpunkt des gesamten Lebens der Kirche zu stellen, und insbesondere in diesem Augenblick in den Mittelpunkt des synodalen Arbeitens. Mit anderen Worten, nehmen wir die dringende Aufforderung an, die der Auferstandene in der Apokalypse an jede der sieben Kirchen in Kleinasien richtet: „Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt“ (Offb 2:7).
Es ist der einzige Weg, den ich selbst habe, um nicht ganz draußen zu bleiben, was das laufende Engagement für die Synode angeht. In einer meiner ersten Predigten am Päpstlichen Hof sagte ich vor 43 Jahren in Gegenwart des Hl. Johannes Paul II: „Mein ganzes Leben lang habe ich die bescheidene Arbeit fortgesetzt, die ich als Kind gemacht habe.“ Und ich erklärte, warum. Meine Großeltern mütterlicherseits bewirtschafteten als Teilpächter ein weites, hügeliges Land. Im Juni oder Juli war die Ernte, nur mit der Hand, mit der Sichel, gebückt in der Sonne. Es war eine sehr schwere Arbeit! Meine kleinen Cousins und ich waren dafür zuständig, den Schnittern ständig Wasser zum Trinken zu bringen. Das habe ich dann mein ganzes Leben lang gemacht. Die Schnitter haben sich geändert, das sind jetzt die Arbeiter im Weinberg des Herrn, und das Wasser hat sich geändert, es ist jetzt das Wort Gottes. Meine Arbeit ist – um die Wahrheit zu sagen – viel weniger anstrengend ist als die der Arbeiter auf dem Feld, aber auch, wie ich hoffe, nützlich und irgendwie notwendig.
In dieser ersten Predigt werde ich mich darauf beschränken, die Lehren zusammenzutragen, die wir von der entstehenden Kirche bekommen können. Mit anderen Worten, ich möchte zeigen, wie der Heilige Geist die Apostel und die christliche Gemeinschaft bei ihren ersten Schritten in der Geschichte geleitet hat. Als die oben erwähnten Worte Jesu über den Parakleten von Johannes niedergeschrieben wurden, hatte die Kirche bereits praktische Erfahrungen damit gemacht und es ist genau diese Erfahrung, so sagen uns die Exegeten, die sich in den Worten des Evangelisten widerspiegelt.
Die Apostelgeschichte zeigt uns eine Kirche, die Schritt für Schritt „vom Geist geführt“ wird. Sie wird nicht nur in den großen Entscheidungen, sondern auch in kleinen Dingen geleitet. Paulus und Timotheus wollen das Evangelium in der Provinz Asien verkünden, aber „der Heilige Geist verbietet es ihnen“; sie wollen nach Bithynien gehen, aber, wie es heißt, „der Geist Jesu erlaubt es ihnen nicht“ (Apg 16:6). In der Folge wird der Grund für diese dringende Weisung verständlich: der Heilige Geist hat die entstehende Kirche veranlasst, Asien zu verlassen und sich einem neuen Kontinent zuzuwenden nämlich Europa (vgl. Apg 16:9). Paulus bezeichnet sich in seinen Entscheidungen als „gebunden durch den Geist“ (Apg 20:22).
Der Weg der entstehenden Kirche ist nicht gerade und glatt. Die erste große Krise entstand im Zusammenhang mit der Aufnahme von Heiden in die Kirche. Es ist nicht nötig, an den Verlauf dieser Krise zu erinnern. Wir sind nur daran interessiert wahrzunehmen, wie die Krise gelöst wurde. Petrus geht zu Cornelius und den Heiden – der Geist befiehlt es ihm (vgl. Apg 10:19; 11:12). Und wie wird die von den Aposteln in Jerusalem beschlossene Entscheidung, die Heiden in die Gemeinschaft aufzunehmen, ohne sie zur Beschneidung und der Einhaltung aller mosaischen Gesetze zu zwingen, aufgenommen und vermittelt? Sie wird mit diesen außerordentlichen Eröffnungsworten beschlossen: „Denn der Heilige Geist und wir haben beschlossen…“ (Apg 15:28).
Es geht nicht darum, in der Kirche Archäologie zu betreiben, sondern das Paradigma jeder kirchlichen Entscheidung immer wieder neu ans Licht zu bringen. Es bedarf keiner großen Anstrengung, um die Analogie zwischen der damaligen Öffnung gegenüber den Nichtjuden und der heutigen Öffnung gegenüber den Laien und insbesondere der Frauen zu erkennen. Es lohnt sich also, an die Motivation zu erinnern, die Petrus damals veranlasste, seine Bestürzung zu überwinden und Kornelius und seine Familie zu taufen. Wir lesen in der Apostelgeschichte:
„Noch während Petrus dies sagte, kam der Heilige Geist auf alle herab, die das Wort hörten. Die gläubig gewordenen Juden, die mit Petrus gekommen waren, konnten es nicht fassen, dass auch auf die Heiden die Gabe des Heiligen Geistes ausgegossen wurde. Denn sie hörten sie in Zungen reden und Gott preisen. Petrus aber sagte: Kann jemand denen das Wasser zur Taufe verweigern, die ebenso wie wir den Heiligen Geist empfangen haben?“ (Apg 10:44- 47).
Petrus, der aufgefordert wird, sein Verhalten in Jerusalem zu rechtfertigen, erzählt, was im Haus des Kornelius geschehen ist und schließt mit dem Worten:
„Da erinnerte ich mich an das Wort des Herrn: Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber werdet mit dem Heiligen Geist getauft werden. Wenn nun Gott ihnen die gleiche Gabe verliehen hat wie uns, als wir zum Glauben an Jesus Christus, den Herrn, gekommen sind: Wer bin ich, dass ich Gott hindern könnte?“ (Apg 11,16-17).
Wenn man genau hinsieht, ist das dieselbe Motivation, die die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils veranlasst hat, die Rolle der Laien in der Kirche neu zu definieren, und zwar die in der Lehre von den Charismen. Wir kennen den Text gut, aber es ist immer nützlich, ihn in Erinnerung zu rufen:
„Derselbe Heilige Geist heiligt außerdem nicht nur das Gottesvolk durch die Sakramente und die Dienstleistungen, er führt es nicht nur und bereichert es mit Tugenden, sondern “einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will” (1 Kor 12,11), seine Gaben aus und verteilt unter den Gläubigen jeglichen Standes auch besondere Gnaden. Durch diese macht er sie geeignet und bereit, für die Erneuerung und den vollen Aufbau der Kirche verschiedene Werke und Dienste zu übernehmen gemäß dem Wort: “Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt“ (1 Kor 12,7). Solche Gnadengaben, ob sie nun von besonderer Leuchtkraft oder aber schlichter und allgemeiner verbreitet sind, müssen mit Dank und Trost angenommen werden, da sie den Nöten der Kirche besonders angepasst und nützlich sind.“ (3)
Wir sind mit der Wiederentdeckung des Wesens der Kirche konfrontiert, das nicht nur hierarchisch, sondern auch charismatisch ist. Der heilige Johannes Paul II hat das in Novo millennio ineunte (Nr. 45) noch deutlicher gemacht, indem er die Kirche als Hierarchie und als Gemeinschaft (koinonia) definiert hat. Bei der ersten Lektüre der jüngsten Konstitution über die Reform der Kurie Praedicate Evangelium (abgesehen von den juristischen und technischen Aspekten, über die ich nichts weiß) hatte ich den Eindruck, dass sie einen Schritt in dieselbe Richtung macht, d.h. dass sie das vom Konzil gebilligte Prinzip auf einen bestimmten Bereich der Kirche, nämlich ihre Leitung anwendet und die Laien und Frauen stärker daran beteiligt.
Aber jetzt müssen wir noch einen Schritt weitergehen. Das Beispiel der apostolischen Kirche erhellt uns nicht nur die inspirierenden Prinzipien, d.h. die Theorie, sondern auch die Praxis. Es lehrt uns, dass nicht alles mit den Beschlüssen einer Synode oder mit einem Dekret geregelt ist. Es ist notwendig, diese Beschlüsse in die Praxis umzusetzen, die sogenannte „Rezeption“ der Dogmen. Und dafür brauchen wir Zeit, Geduld, Dialog, Toleranz, manchmal sogar Kompromisse. Wenn dies im Heiligen Geist geschieht, ist der Kompromiss kein Nachgeben oder Verleugnen der Wahrheit, sondern er ist Nächstenliebe und Gehorsam gegenüber Situationen. Wieviel Geduld und Toleranz hatte Gott, nachdem er seinem Volk den Dekalog gegeben hatte! Wie lange hat er darauf gewartet – und tut es noch immer – dass wir ihn annehmen!
In der eben erwähnten Geschichte tritt Petrus eindeutig als Vermittler zwischen Jakobus und dem neubekehrten Paulus auf, d.h. zwischen dem Anliegen der Kontinuität und dem der Neuheit. Bei dieser Vermittlung werden wir Zeuge einer Begebenheit, die uns auch heute noch helfen kann. Es handelt sich um den Zwischenfall, bei dem Paulus in Antiochia Petrus wegen Heuchelei tadelte, weil dieser es vermieden hatte, mit bekehrten Heiden zu Tisch zu sitzen. Hören wir seine eigenen Worte:
„Als Kephas aber nach Antiochia gekommen war, habe ich ihm ins Angesicht widerstanden, weil er sich ins Unrecht gesetzt hatte. Bevor nämlich einige von Jakobus eintrafen, hatte er mit den Heiden zusammen gegessen. Nach ihrer Ankunft aber zog er sich zurück und sonderte sich ab, weil er die aus der Beschneidung fürchtete“ (Gal 2:11-12).
Die Konservativen der damaligen Zeit warfen Petrus vor, er sei zu weit gegangen, als er zu dem heidnischen Kornelius ging; Paulus warf ihm vor, er sei nicht weit genug gegangen. Paulus ist der Heilige, der mir am liebsten ist, den ich am meisten bewundere und Liebe. Aber in diesem Fall bin ich davon überzeugt, dass er sich von seinem feurigen Charakter mitreißen ließ (und das ist nicht das einzige Mal!). In Antiochia war es Petrus, der Recht hatte, nicht er. Petrus hat keineswegs durch Heuchelei gesündigt. Der Beweis ist, dass Paulus selbst bei einer anderen Gelegenheit genau dasselbe tat, was Petrus in Antiochia tat. In Lystra ließ er seinen Gefährten Timotheus „mit Rücksicht auf die Juden, die in jenen Gegenden wohnten“ (Apg 16:3) beschneiden, also um niemanden zu erzürnen. An die Korinthern schreibt er: „Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen“ (1 Kor 9:20) und im Brief an die Römer empfiehlt er, denen zu begegnen, die noch nicht die Freiheit erreicht haben, die andere genießen, um das Reich Gottes nicht zu einer Sache des „Essens und Trinkens“ zu machen (Röm 14:1ff;).
Die Rolle des Vermittlers, die Petrus zwischen den gegensätzlichen Optionen des Jakobus und Paulus ausübt, setzt sich bei seinen Nachfolgern fort. Sicherlich nicht (was für die Kirche gut ist) bei jedem von ihnen auf gleiche Weise, sondern entsprechend dem eigenen Charisma, das der Heilige Geist ihnen (und den Kardinälen unter ihnen) zu einen bestimmten Zeitpunkt der Geschichte der Kirche als am notwendigsten erachtet hat.
Angesichts politischer, sozialer und kirchlicher Ereignisse und Wirklichkeiten werden wir verleitet, uns sofort auf die eine Seite zu stellen und die gegnerische zu verteufeln, und uns den Triumph unserer Wahl über die unserer Gegner zu wünschen. (Wenn ein Krieg ausbricht, beten alle zu demselben Gott, er möge den eigenen Armeen den Sieg schenken und die des Feindes vernichten – was selbst für Gott unmöglich ist!). Ich sage nicht, dass es verboten ist, Vorlieben zu haben: im politischen, sozialen, theologischen Bereich, usw., oder dass es möglich ist, keine zu haben. Aber wir sollten niemals erwarten, dass Gott sich auf unsere Seite gegen den Widersacher stellt. Wir sollten das auch nicht von denen verlangen, die uns regieren. Es ist, als ob man einen Vater bittet, zwischen zwei Kindern zu wählen, ihm zu sagen: „Wähle, entweder ich oder mein Feind; zeige deutlich, auf wessen Seite du stehst!“ Gott ist mit allen und kann daher nicht gegen jemanden sein. Er ist der Vater von allen.
Das Handeln des Petrus in Antiochia – wie das des Paulus in Lystra – war nicht heuchlerisch, sondern eine Anpassung an die Situation, d.h. die Entscheidung für das, was in einer bestimmten Situation das größere Wohl der Gemeinschaft fördert. Mit diesem Punkt möchte ich gerne fortsetzen und diese erste Meditation abschließen, auch weil wir damit von der Weltkirche zur Ortskirche, ja zu unserer eigenen Gemeinschaft oder Familie und zum geistlichen Leben eines jeden von uns übergehen können (was man, denke ich, von einer Fastenmeditation erwartet!).
In der Bibel gibt es ein Vorrecht Gottes, das die Kirchenväter gerne hervorgehoben haben: die synkatabasis, d.h. die Herablassung. Für den heiligen Johannes Chrysostomus ist sie eine Art Schlüssel zum Verständnis der ganzen Bibel. Im Neuen Testament wird das gleiche Vorrecht Gottes mit dem Begriff der Güte (chrestotes) ausgedrückt. Das Kommen Gottes im Fleisch wird als die höchste Erscheinung der Güte Gottes angesehen: „Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschien, hat er uns gerettet“ (Titus 3,4).
Freundlichkeit etwas anderes als bloße Güte: sie bedeutet, gut zu anderen zu sein. Gott ist gut in sich selbst und freundlich zu uns. Sie ist eine der Früchte des Geistes (GAl 5:22) und ein wesentlicher Bestandteil der Nächstenliebe (1 Kor 13:4). Sie nimmt einen zentralen Platz in der apostolischen Paränese (Mahnrede) ein. So lesen wir, zum Beispiel, im Brief an die Kolosser:
„Darum zieht nun wie eine neue Bekleidung alles an, was den neuen Menschen ausmacht: herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Bescheidenheit, Milde, Geduld. Ertragt einander! Seid nicht nachtragend, wenn euch jemand unrecht getan hat, sondern vergebt einander, so wie der Herr euch vergeben hat“ (Kol 3,11-12).
In diesem Jahr feiern wir den vierhundertsten Todestag eines Heiligen, der in einer nicht minder von erbitterten Kontroversen geprägten Zeit ein wunderbares Vorbild für diese Tugend war: der heilige Franz von Sales. Wir alle in der Kirche sollten in diesem Sinn „Salesianer“ werden: herablassender, freundlicher und toleranter, weniger festgefahren in unseren persönlichen Gewissheiten, uns bewusst, wie oft wir uns eingestehen mussten, dass wir uns in einer Person oder einer Situation geirrt haben und wie oft auch wir uns in Situationen anpassen mussten. Gott sei Dank gibt es in unseren kirchlichen Beziehungen nicht – und sollte es auch nie geben – jene Neigung, den Gegner zu beleidigen und zu verunglimpfen, die in bestimmten politischen Debatten zu beobachten ist, und die dem friedlichen zivilen Zusammenleben so viel Schaden zufügt.
Es gibt zwar jemanden, dem gegenüber es richtig ist, unnachsichtig zu sein, aber dieser Jemand bin ich selbst. Wir neigen von Natur aus dazu, unnachgiebig mit anderen und nachsichtig mit uns selbst zu sein, obwohl wir uns vornehmen sollten, genau das Gegenteil zu tun: streng mit uns selbst und langmütig mit den anderen zu sein. Wenn wir diesen Vorsatz ernst nehmen, würde er allein schon ausreichen, um unsere Fastenzeit zu heiligen. Er würde uns von jeder anderen Art des Fastens entbinden und uns in allen Bereichen des Lebens der Kirche fruchtbarer und gelassener arbeiten lassen.
Es ist eine nützliche Übung in diesem Bereich, vor dem Gericht des eigenen Herzens ehrlich zu der Person zu sein, mit der man nicht einverstanden ist. Wenn ich merke, dass ich innerlich jemanden anklage, muss ich aufpassen, dass ich mich nicht gleich auf meine Seite stelle. Ich muss aufhören, meine Gründe andauernd zu wiederholen, wie jemand, der Kaugummi kaut, und stattdessen versuchen, mich in den anderen hineinzuversetzen, und zu versuchen, seine Beweggründe zu verstehen und was er mir darauf antworten könnte.
Diese Übung darf nicht nur in Bezug auf die einzelne Person gemacht werden, sondern auch in Bezug auf die Denkströmung, mit der ich nicht einverstanden bin, und auf die von ihr vorgeschlagene Lösung für ein bestimmtes Problem, das (in der Synode oder zu einer anderen Zeit) diskutiert wird. Thomas von Aquin gibt uns ein Beispiel: Er beginnt jeden Artikel seiner Summa mit den Argumenten des Gegners, ohne sie zu verharmlosen oder lächerlich zu machen, und antwortet dann mit seinem Sed contra, d.h. mit den Gründen, die er als mit dem Glauben und der Moral übereinstimmend betrachtet. Fragen wir uns (ich zuerst): Tun wir das auch?
Jesus sagt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! […]Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ (Mt 7:1-3). Aber können wir leben, ohne jemals zu urteilen? Die Fähigkeit zu urteilen ist Teil unserer menschlichen Struktur, sie ist ein Geschenk Gottes. Im Lukasevangelium folgt auf das Gebot Jesu: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, unmittelbar sein Gebot: „Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden“ (Lk 6,37), um den Sinn dieser Worte zu verdeutlichen. Es geht nicht darum, das Urteil aus unseren Herzen auszuschließen, sondern vielmehr das Gift aus unserem Urteil zu entfernen! Das heißt Hass, Verurteilung und völlige Ablehnung.
Ein Elternteil, ein Vorgesetzter, ein Beichtvater, ein Richter – jeder, der eine gewisse Verantwortung für jemanden hat – muss urteilen. Manchmal ist das Urteilen sogar genau die Art des Dienstes, die man in der Gesellschaft oder in der Kirche ausüben soll. Die Stärke der christlichen Liebe liegt darin, dass sie in der Lage ist, das Urteilen von einem Akt der Nicht- Liebe in einen Akt der Liebe zu verwandeln. Nicht aus eigener Kraft, sondern dank der Liebe, die „ausgegossen (ist) in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist (Röm 5:5).
Machen wir uns zum Abschluss das schöne Gebet zu eigen, das dem heiligen Franz von Assisi zugeschrieben wird. (Vielleicht ist es nicht von ihm, aber es spiegelt seinen Geist perfekt wider):
Herr, mache mich zu einem Werkzeug eines Friedens, dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich Einheit bringe, wo Zwietracht herrscht; dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht; dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält; dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt; dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert.
Und wir fügen hinzu:
Lass mich Güte zeigen, wo Bosheit wirkt;
lass mich Freundlichkeit bringen, wo es Härte gibt.
Anmerkungen:
1 Vgl. Orígenes, In Rom. 5,8; PG 14, 1042.
2 Vgl. Heiliger Irenäus Adversus Haereses, III, 24,1.
3 Lumen Gentium, 12. Bild Wikipedia
Übersetzung: Elisabeth Obermayer (mit Unterstützung von DEEPL) Charismatische Erneuerung Österreich & Südtirol; Interim. CHARIS NSC für Österreich